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Blockade von Leningrad

Blockade von Leningrad - “Wir werden alle wie die Fliegen verrecken”

Zerschossen und ausgehungert werden müsse Leningrad, befahl Hitler.

Vor 75 Jahren begann die Wehrmacht mit der Blockade.

In der Stadt führte Schülerin Lena Muchina, 16, ein Tagebuch des Schreckens.

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Lena Muchina empfindet Hass. Auf die deutschen Piloten, die Leningrad bombardieren. Auf die deutschen Artilleristen, die ihre geliebte Stadt immer wieder unter Feuer nehmen. Zornig schreibt die 16-jährige Schülerin in ihr Tagebuch:

“Aber wir werden uns rächen, für alles werden wir uns ‘an ihnen’ rächen. Auge um Auge! Zahn um Zahn! [...] Nein, sie werden dafür bezahlen. Für die durch Bomben und Granaten getöteten Leningrader, Moskauer, Kiewer und viele andere, für die gequälten, zerfetzten und verwundeten Kämpfer der Roten Armee, für die erschossenen, zerfetzten, erstochenen, gehängten, lebendig begrabenen, verbrannten, zerquetschten Frauen und Kinder werden sie voll bezahlen.

Diesen Racheschwur notiert Lena am 8. September 1941. An diesem Tag schneidet die Wehrmacht die Metropole am Fluss Newa von den Versorgungswegen über Land ab. Bis zu 2,8 Millionen Männer, Frauen und Kinder sitzen fest.

Kaum drei Monate zuvor, am 22. Juni 1941, hatte das Deutsche Reich die Sowjetunion überfallen. “Lebensraum” wollte Adolf Hitler im Osten erobern. Und plante den Krieg von Anfang an als Raub- und Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion.

Buchstäblich auslöschen wollen die Deutschen auch die Bevölkerung Leningrads. Als “Wiege” der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917 hegt Hitler besondere Verachtung für die ehemalige Hauptstadt des Zarenreichs. “Die Stadt wird nur eingeschlossen, mit Artillerie zerschossen und ausgehungert”, so der Diktator im September 1941. Leningrad solle nicht erobert werden, eine mögliche Kapitulation sei abzulehnen. Die eingekesselten Menschen sollen elendig krepieren - ein beispielloses Kriegsverbrechen.

“Ein wilder, erbitterter Krieg”

In ihrem Tagebuch schildert Jelena Wladimirowna Muchina, kurz Lena, den Überlebenskampf in der hungernden Stadt aus Sicht einer Heranwachsenden: Manchmal fröhlich, manchmal bekümmert, bis der einsetzende Hunger das Tagebuch in eine Chronik des Schreckens verwandelt. Es reicht bis zum Mai 1942, als Lena aus der Stadt evakuiert wird.

Ihre Geschichte ist erst seit wenigen Jahren bekannt: 1962 war das Tagebuch einem Leningrader Archiv übergeben worden. Erst 2011 erschien es in russischer Sprache, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung.

“Das wird ein wilder, erbitterter Krieg werden”, befürchtet Lena, als sie im Radio die Nachricht vom deutschen Angriff hört. Wie erbittert, ahnt sie nicht. Bis dahin hat sich ihr Leben um ganz andere Dinge gedreht. Mit ihrer Tante Jelena, die sie liebevoll “Mama” nennt, und deren greiser Freundin Aka lebt Lena in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung. Ihre kranke Mutter kann die Tochter nicht selbst großziehen.

Lenas Tagebuch schildert in diesem Zeitraum das typische Leben eines Teenagers. Es geht um Freunde, Liebe und Schulnoten, aber auch um ihren großen Berufstraum. Zoologin möchte Lena werden: “Man wird mich auf Expeditionen schicken, ich werde in die verschiedensten Ecken unseres Landes reisen.”

Wenig später ist Leningrad eingekesselt, Bomben und Granaten fallen. Mit einer Freundin sieht sich Lena, geboren am 21. November 1924, die Trümmer der Gebäude an, geht ins Kino und kann - noch - unbeschwert lachen. Bald aber schwindet die Fröhlichkeit. Sie arbeitet als Sanitäterin im Militärhospital und wird auf einen Mann aufmerksam: “Sein Gesicht hat mir sehr gefallen”, schreibt sie. Wenig später ist er gestorben. Der erste Tote, den sie in ihrem Leben sieht.

Die Zeit des Hungerns beginnt in der abgeriegelten Stadt. “Wir bekommen jetzt nur noch ein Kilogramm Brot am Tag”, schreibt Lena bereits am 2. September 1941. Die Behörden waren nicht auf die Blockade vorbereitet, die Getreidevorräte reichen nur für knapp einen Monat. Zudem greifen die Deutschen die Versorgungsdepots an: “Die Faschisten sind Bestien. Was wollen sie mit unserer Stadt machen?”

Wenn es überhaupt noch Rationen gibt, bekommen Arbeiter ab November 1941 auf ihre Lebensmittelkarten täglich nur noch 250 Gramm “Blockadebrot”, andere Bürger mickrige 125 Gramm, obendrein mit Zellulose oder anderen Stoffen gestreckt. In ihrem Buch “Blokada” nennt die Autorin Anna Reid eine Tagesration von 300 Kalorien für diese Menschen - ein nicht körperlich arbeitender Mann benötigt ungefähr 2500 Kalorien.

Haustiere geschlachtet - “unserem Katerchen vielen Dank”

“Ich habe solchen Hunger”, klagt Lena, die stark abmagert. Dabei bekommt sie selbst zeitweise als Sanitäterin 400 Gramm Brot pro Tag. Der Unterschied zwischen Leben und Tod.

In ihrer Not schlachten die Leningrader Haustiere, Ratten, Vögel. “Unserem Katerchen vielen Dank. Er hat uns zehn Tage lang ernährt”, schreibt Lena. Aus Schafgedärmen und Kalbsleder wird “Fleischgelee”, “Hefesuppe” besteht aus fermentiertem Sägemehl von Bäumen. Arbeiter trinken Maschinenöl, aus Tischlerleim kochen Lena und ihre Tante Sülze. Gegen den quälenden Hunger kauen manche auf dem Leder von Schuhen und Gürteln herum.

Andere Leningrader werden gar zu Kannibalen, rund 2000 Fälle sind aktenkundig. Die Stadt sieht unbeschreibliche Szenen der Not: Stärkere stehlen Schwachen die Lebensmittelkarten, Plünderer durchstreifen die Straßen, Mitglieder der kommunistischen Jugendorganisation Komsomolz durchsuchen Wohnungen auf der Suche nach Lebenden - und finden oft nur Leichen.

Mit vor Kälte steifen Händen phantasiert Lena Muchina, womit sie sich den Bauch vollschlagen wird, wenn die Blockade endet. “Wir werden alle wie die Fliegen verrecken”, befürchtet sie.

Ihre alte Mitbewohnerin Aka empfindet sie als “überflüssigen Esser”. In einem Moment der Schwäche schreibt die Hungernde: “Wenn sie stirbt, sollte es nach dem 1. geschehen, dann bekommen wir noch ihre Lebensmittelkarte.” Und schämt sich kurz darauf: “Wie herzlos ich bin.”

“Ich möchte den Kopf an die Wand schlagen”

Zum Hunger kommt ab Mitte Oktober 1941 der Frost. Auf bis zu minus 40 Grad sinkt die Temperatur. In langen Kolonnen schleppen die Leningrader, wenn sie überhaupt auf die Beine kommen, ihre Toten zu Massengräbern. “Mumien” nennen sie die in Decken eingeschlagenen Leichen.

Ein Weg, den auch Lena Muchina gehen muss. “Gestern Morgen ist Mama gestorben”, notierte die Schülerin am 8. Februar 1942:

“Mama ist nicht mehr! Mama weilt nicht mehr unter den Lebenden. Auch Aka ist nicht mehr da. Ich bin allein. Es ist unfassbar. Manchmal überkommt mich die Wut. Ich möchte schreien, kreischen, den Kopf an die Wand schlagen, beißen! Wie werde ich nur ohne Mama leben?

Erst vier Tage später findet sie die Kraft, ihre Tante wegzubringen.

Aber der Frost bedeutet auch Hoffnung. Im Dezember 1941 erobert die Rote Armee den Eisenbahnknotenpunkt Tichvin zurück. Seitdem erreichen Leningrad wieder Lebensmitteltransporte über den benachbarten Ladogasee, zuerst per Lastkahn.

Bald machen sich auch tapfere Fahrer mit ihren Lkw auf den gefährlichen Weg über den zugefrorenen See, die “Straße des Lebens” zur Außenwelt. Doch es kommt zu wenig, zu spät. Erst allmählich bessert sich die Versorgungslage, die Rationen werden größer.

Psychopath an der Macht

Die Menschen der Stadt zeigen äußersten Überlebenswillen. Während Tausende auf Straßen und in Häusern sterben, Bomben und Granaten fallen, bleiben Theater und Kinos geöffnet. Kinder gehen zur Schule, in Fabriken wird produziert - scheinbare Normalität.

Lena ist aber der Verzweiflung nahe - warum muss sie so sehr leiden? Warum soll Leningrad ausgelöscht werden? Die nun Siebzehnjährige kennt den Schuldigen: Adolf Hitler.

“Wegen der Wahnideen dieses Psychopathen. Er hat beschlossen, die ganze Welt zu erobern. Das ist soo ein Irrsinn, und deshalb hungern und leiden wir. Allmächtiger, wann hört das alles auf? Das muss doch irgendwann aufhören!?!!”

Für Lena Muchina hörte es im Mai 1942 auf - sie wurde evakuiert. Leningrad hingegen musste weiter kämpfen. Im Januar 1943 konnte die Rote Armee einen schmalen Landkorridor sichern, aber erst am 27. Januar 1944 sprengten die Rotarmisten die Abriegelung der gepeinigten Stadt endgültig.

Nach fast 900 Tagen war Leningrad wieder frei, Schätzungen von Historikern zufolge kostete die deutsche Blockade rund eine Million Menschen das Leben.

Lena sah Leningrad erst im Herbst 1945 wieder. Drei Jahre zuvor war sie in Gorki bei Verwandten untergekommen. “Ich habe schreckliche Sehnsucht nach Leningrad”, schrieb die junge Frau in einem Brief.

Allerdings verlor sie bald ihren Arbeitsplatz. So verschlug es Lena Muchina letztlich nach Moskau. Am 5. August 1991 starb sie dort, vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion. Allein, ohne Ehemann, ohne Kinder.

Von Marc von Lüpke, spiegel de , 8.9.2016


Der Beitrag wurde am Montag, den 17. Oktober 2016 um 01:50 Uhr unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen und selbst einen Kommentar schreiben.

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