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« Hungersnot in der Ukraine  |   Stalingrad 1942 - Weihnachten in der Hölle »

Holodomor - Als Stalin die Ukrainer mit Hunger tötete

1932 und 1933 herrschte eine der schrecklichsten Hungerkatastrophen in Europa – weil Stalin den Hunger als Waffe nutzte. Der Holodomor kostete Millionen Menschen das Leben. von Maria Krell 26.11.2022

Ein Mädchen mit Getreideähren in den Händen – das Denkmal in Kiew soll an die Opfer des Holodomors erinnern. In den Jahren 1932 und 1933 verursachte die Sowjetregierung eine Hungersnot, die Millionen Menschen das Leben kostete. Am 26. November 2022 gedenkt die Ukraine der Opfer.

Holodomor– das Wort klingt so düster wie seine Bedeutung: »Töten durch Hunger«. Holodomor, das war eine menschengemachte Katastrophe, die in den Jahren 1932 und 1933 Millionen Menschen in der Ukraine das Leben kostete. Die Ereignisse brannten sich in die Erinnerung der Überlebenden ein. So wie bei Maria Katchmar, die viele Jahrzehnte später schilderte, was ihr als Kind widerfuhr, als der Holodomor ihr Dorf erreichte:

»Es gab absolut nichts zu essen. Wir aßen Gras. Meistens aßen wir Pfannkuchen aus Blättern und erfrorenen Kartoffeln, die unsere Nachbarin uns gab. So hat sie uns gerettet. (…) Fast alle sind gestorben. Meistens war nur noch ein Mann oder eine Frau [aus jeder Familie] übrig. Fast alle Kinder starben. (…) Es gab eine Grube, und da warfen sie sie hinein, wie Schlamm. Die Grube war groß genug für das ganze Dorf.«

Maria Katchmar wuchs in Polyvka auf, einem ukrainischen Dorf im heutigen Oblast Tscherkassy. Vor rund 90 Jahren verhungerten dort wie in anderen Dörfern und Städten der Ukraine etliche Menschen, darunter die acht Geschwister von Maria Katchmar. Neueren Studien zufolge starben in der Ukraine zwischen 1932 und 1934 etwa 3,9 Millionen Menschen. Das waren 13,3 Prozent der damaligen ukrainischen Bevölkerung. Dabei löschte die Hungersnot nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Kasachstan – hier starben im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Menschen –, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion ganze Dörfer aus.

Heute ist unbestritten, dass der Holodomor eine von Josef Stalin (1878–1953) herbeigeführte Katastrophe und eine Folge seiner »Revolution von oben« war. Das Ereignis geht zurück auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, unerfüllbar hohe Abgabequoten und eine gnadenlose Durchsetzung der bolschewistischen Industrialisierungs- und Modernisierungspläne.

Als die Bauern in Kolchosen gezwungen wurden

Die Hungersnot in der Ukraine, der Kornkammer Europas, war das Ergebnis von staatlichem Terror und Eskalation. Seit 1928 hatten die Bolschewiki unter Stalin den Druck auf die Bauernschaft immer mehr erhöht. Die 1929 eingeführte Zwangskollektivierung landwirtschaftlicher Betriebe nötigte etliche Bauern dazu, ihr Land, Vieh und ihre Werkzeuge abzugeben und in Kolchosen, staatlichen Kollektivfarmen, zu arbeiten. Sie hatten wie einzelne Bauern auch Abgabequoten für Getreide und Fleisch zu erfüllen.

Alle, die sich gegen die Zwangsmaßnahmen zur Wehr setzten, brandmarkte das sowjetische Regime als Kulaken – ein Begriff aus der Zarenzeit für wohlhabende Großbauern. Damit waren sie als Klassenfeinde und konterrevolutionäre Elemente geächtet, die es »als Klasse zu liquidieren« galt, wie Stalin 1929 in einem Regierungsdekret erklärte. Die Folge: »Kulaken« wurden ausgegrenzt, verhaftet, in unwirtliche Regionen deportiert oder ermordet.

Mit der Jagd auf den Klassenfeind wollte Stalin seine staatliche Neuordnung aufs Land tragen und die dortigen Strukturen aufbrechen. Für die Bolschewiki galten die Bauern nicht nur als Menschen zweiter Klasse, deren Aufgabe es war, die Industriearbeiter mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Sondern die Bolschewiki hegten immer auch den Verdacht, die landwirtschaftliche Bevölkerung würde eine Konterrevolution anzetteln.

Die Bauern befanden sich in einer ausweglosen Situation

Der Bauer Semen Ivanisov beschrieb 1929, in welch auswegloser Situation er sich plötzlich befand: Sollte er hart arbeiten und seine Farm vergrößern, würde er als »Kulake« zum Feind werden. Andernfalls aber, stellte er resigniert fest, bliebe nur die ideologisch gebilligte Armut. Das Sowjetregime zerstörte demnach alle Anreize, mehr Getreide zu produzieren.

»Die Vernichtung der Bevölkerung wurde billigend in Kauf genommen, um die eigenen Ziele zu erreichen« Robert Kindler, Historiker, Freie Universität Berlin

Trotz des chaotischen Umbaus der Landwirtschaft verzeichneten die offiziellen Statistiken 1930 zunächst einen Anstieg in der Getreideernte im Vergleich zu 1929 – einem Jahr, in dem schlechtes Wetter herrschte und die Menschen Hunger litten. Doch weil Moskau vom Erfolg der Kollektivierung überzeugt war, traf die Regierung eine verheerende Entscheidung: Den Kolchosen und verbliebenen Einzelbauern erlegten sie noch höhere Abgabequoten auf.

Bereits 1931 deutete sich an, dass die Ernten stark hinter den Erwartungen zurückbleiben würden. Berichte über uneffektive Arbeitsmethoden in den Kolchosen, niedrige Ernten und hungernde Bauern erreichten den Kreml. Obwohl fast jeder zu diesem Zeitpunkt verstanden hatte, dass die Kollektivierung die Ursache für die niedrigeren Erträge war, »konnte die Politik nicht in Frage gestellt werden, weil sie schon zu eng mit Stalin selbst verknüpft war«, schreibt die Journalistin und Historikerin Anne Applebaum in ihrem Buch »Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine«.

Menschenleben spielten für die Kommunisten keine Rolle

Ein Sündenbock war schnell gefunden. Wenn die Quoten nicht erfüllt würden, liege es allein daran, dass die »Kulaken« das System sabotierten und inkompetente Beamte nicht hart genug gegen die Bauern vorgingen. Entsprechend der bolschewikischen Logik sollte der angeblich antisowjetischen Blockadehaltung der Bauernschaft mit Härte entgegnet werden: Moskau erhöhte die Quoten für das Jahr 1932 weiter – wohl wissend, dass bereits Menschen verhungerten. »Aus der Perspektive der Kommunisten spielten Menschenleben keine allzu große Rolle. Die Vernichtung der Bevölkerung wurde billigend in Kauf genommen, um die eigenen Ziele zu erreichen«, erklärt Robert Kindler, Professor am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Der Historiker hat jahrelang zu Stalinismus und der Hungersnot in Kasachstan geforscht. Die Absicht sei es gewesen, so sagt er, möglichst große Mengen an Ressourcen aus den Gebieten herauszuholen und die Planzahlen ständig zu erhöhen.

In Stalins eskalierendem Krieg gegen die Bauern, so folgert Applebaum, kam dessen Überzeugung zum Ausdruck, dass Nationalismus und Bauerntum eng miteinander verknüpft seien. »Die Bauernfrage ist die Grundlage, die Quintessenz der nationalen Frage«, erklärte Stalin 1925. Eine mächtige nationale Bewegung werde immer von einer bäuerlichen Armee getragen; wolle man eine solche Entwicklung unterbinden, müsse man bei den Bauern anfangen. In den Augen Stalins ging deshalb von der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik mit ihrem großen bäuerlichen Bevölkerungsanteil eine besondere Gefahr aus. Womöglich haben auch die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bauern und bolschewistischen Truppen in den Jahren 1918 bis 1920 Stalin in seiner Entscheidung bestärkt.

Selbst unter enormen Druck gesetzt, versuchten Beamte im Frühling 1932 die unrealistischen Quoten zu erfüllen, indem sie immense Mengen Getreide eintrieben. Sie schickten Brigaden in die Dörfer aus, die nach Nahrungsmitteln und Getreide suchten. Was dabei geschah, schildert ein Bauer aus dem ukrainischen Soboliwka in einem Brief: »Die Behörden tun Folgendes: Sie schicken die so genannten Brigaden, die zu einem Mann oder einem Bauern kommen und alles so gründlich durchsuchen, dass sie sogar mit spitzen Metallwerkzeugen in den Boden und die Wände stechen, in den Garten, ins Strohdach, und wenn sie nur ein halbes Pfund finden, nehmen sie es auf dem Pferdewagen mit.«

Im August 1932 erließ die UdSSR ein Gesetz, wonach Menschen für den Diebstahl selbst winzigster Mengen Lebensmittel mit dem Tod oder einer zehnjährigen Haftstrafe in einem Arbeitslager bestraft werden konnten.

Bauern landeten auf schwarzen Listen

Höfe, die ihre Quoten nicht erfüllten, erwarteten ebenso schwere Strafen. Kolchosen, Farmen und sogar ganze Dörfer wurden auf schwarze Listen gesetzt: Sie waren vom Handel ausgeschlossen und wurden mit finanziellen Sanktionen belegt. Der Staat beschlagnahmte Lebensmittel, Werkzeuge und Güter.

Als die Menschen massenhaft versuchten, dem Hungertod zu entkommen und vom Land in Städte und andere Länder zu fliehen, schlossen die Bolschewiki die Grenzen und stoppten zeitweise den Verkauf von Zugtickets an Ukrainer. In den Städten führten sie ein spezielles Passsystem ein, um die sterbenden und bettelnden Bauern erst gar nicht hereinzulassen. Patrouillen suchten nach Flüchtigen.

Im Frühling 1933 waren die Menschen so verzweifelt, dass sie begannen, alles zu essen: Pferde, Hunde, Katzen, Ratten, Ameisen, Schildkröten und Frösche.

Die Härte, mit der das Regime wissentlich und willentlich die Menschen in den Hungertod trieb, geht laut dem deutschen Historiker Gerhard Simon auf Stalins Überzeugung zurück, dass »der ukrainische Nationalismus schuld an der unzureichenden Getreideaufbringung war, dass die Ukrainer also gezielt Widerstand gegen die Zentralmacht leisteten und dafür ein für alle Mal bestraft werden müssten«. In einem Schreiben vom 11. August 1932 an seinen Vertrauten Lasar Kaganowitsch drohte Stalin: »Wenn wir uns jetzt nicht daranmachen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren.«

Auch wenn die Hungersnot, wie Historiker Kindler vermutet, nicht geplant gewesen sei, so nutzten die Bolschewiki sie doch für ihre Zwecke: »Die Hungersnot war, so zynisch das klingt, unter herrschaftspraktischen Aspekten unglaublich effizient«, erklärt Kindler. »Sie brach Widerstände, disziplinierte die Bevölkerung und machte klar, wer die Macht über Leben und Tod hatte.«

Viele, aber nicht alle Menschen folgten im Holodomor ihren eigenen Interessen

Nicht alle Menschen hungerten gleichermaßen. Es herrschten Versorgungshierarchien bis in die Dörfer hinein, schildert Kindler. Und nicht immer steuerte der Staat allein die Nahrungsversorgung oder die Quoten. »Es entsteht oft das Bild einer Sowjetunion, in der eine Person befahl und die restliche Führung folgte. Aber gerade beim Holodomor sehen wir, dass die Situation viel komplexer war: Auf allen Ebenen ließen Akteure eigene Interessen in Entscheidungen einfließen«, betont der Historiker von der Freien Universität Berlin. Das reichte von einer größeren Portion bei der Essensausgabe in Kolchosen bis hin zur systematischen Benachteiligung unbeliebter Familien im Dorf.

Im Frühling 1933 waren die Menschen so verzweifelt, dass sie begannen, alles zu essen: Pferde, Hunde, Katzen, Ratten, Ameisen, Schildkröten und Frösche. Familien machten aus Blättern und Gras Pfannkuchen, sie aßen Moos, Eicheln und Baumrinden. Manche Bauern kochten Gürtel und Schuhe, um das Leder zu essen. Der Zeitzeuge Mykola Latyshko erinnerte sich, wie im Frühjahr 1933 täglich der Leichenwagen durch die Straßen zog und Männer vor jedem Haus riefen: »Ist jemand während der Nacht gestorben?«

Pavlo Makohon schilderte ebenfalls die damalige Situation in seinem Dorf in der Region Dnipropetrovsk: »Ich lief herum und sammelte alles, was ich bekommen konnte – Stachelschweine, Fleisch von toten Pferden – und brachte es ihnen [den Geschwistern] nach Hause«, berichtet er in einem Video, das der ukrainische Interessenverband Kanadas veröffentlichte. »Als nichts mehr da war und alle verhungert waren, sah ich ein, dass auch ich sterben würde. Also ging ich weg und begann, in den ›khutory‹ [Gehöften] umherzuwandern. An den Gehöften hingen schwarze Fahnen, denn alle waren verhungert. In unserem Dorf wurden zwei Kinder gegessen, aber die Behörden des Rajons [Verwaltungseinheit] schlossen den Fall.«

Menschen aßen aus Hunger Menschen

Die Fälle von Kannibalismus nahmen im Frühjahr 1933 zu. In der Provinz Charkiw meldete die sowjetische Geheimpolizei OGPU mehrere Vorfälle, bei denen »hungernde Familienmitglieder Schwächere, meist Kinder, getötet und ihr Fleisch als Nahrung benutzt haben«. Im März 1933 waren es noch 9 Fälle, im April 58, im Mai 132 und im Juni 221.

Die extreme Situation zerstörte nicht nur Körper und Seele der hungernden Menschen, sondern auch die Gesellschaftsstrukturen in der Ukraine. Diebstahl, Mord und Gewalt nahmen zu. Nachbarn und Familienmitglieder misstrauten einander. Beobachter beschrieben, wie Menschen ihr eigenes Leben als völlig gleichgültig einschätzten und das Leid anderer ignorierten.

Gleichzeitig überlebten viele nur auf Grund sozialer Beziehungen. Die Hilfe von Verwandten und Freunden, aber auch der Zusammenschluss in Kolchosen konnte über Leben und Tod entscheiden. Die Überlebenschancen stiegen mit der Nähe zum System: So konnte oft eine einzige Person, die in einer einflussreichen Position saß, eine ganze Familie retten.

Wie der Holodomor endete

Erst als der Prozess der Kollektivierung 1933 beendet war, aber kaum noch Menschen lebten, die eine Ernte einbringen konnten, lösten die Bolschewiki den Druck auf die Bauern. Im Herbst 1933 hörte das Sterben allmählich auf. Die Sowjetregierung versuchte, die Hungerkatastrophe zu vertuschen, und ordnete jahrzehntelang an, darüber zu schweigen.

Heute ist der Holodomor ein fester Bestandteil der nationalen ukrainischen Identität, seine Geschichte ist weitgehend bekannt. Und immer am letzten Samstag im November, wie dem heutigen 26. November, gedenken die Ukrainerinnen und Ukrainer den Opfern des Holodomors. Fachleute diskutieren allerdings über die Frage, ob die Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung das vorrangige Ziel Stalins war oder ob er sie billigend in Kauf nahm. Während für ukrainische Historiker und Historikerinnen unzweifelhaft feststeht, dass Stalin einen Genozid begangen hat, verweisen viele russische Forschende auf den gesamtsowjetischen Aspekt der Hungersnot – es seien nicht nur Ukrainer und Ukrainerinnen zu Tode gekommen, sondern auch Menschen anderer Ethnien innerhalb und außerhalb der Ukraine.

Unter den Experten im Westen gehen die Meinungen auseinander. »Es gibt keinen Zweifel daran, dass man die Konsequenzen der Hungersnot als genozidal bezeichnen kann: Eine extrem hohe Anzahl an Menschen kam ums Leben. In einigen Regionen hat der Holodomor Ausmaße einer ethnischen Säuberung angenommen«, erläutert Robert Kindler. »Aber bei einem Genozid geht es auch immer um die Frage der Intention.« Das eine sei die historische Dimension, das andere die rechtliche Bewertung. Der deutsche Bundestag will nun jedenfalls die von Stalin verursachte Hungerkatastrophe als Genozid anerkennen. Wie die »FAZ« berichtet, liegt eine entsprechende Resolution der meisten Parteien vor.

Doch bei aller Diskussion um die juristische Beurteilung im Sinn der UN-Völkermordkonvention steht außer Frage: Stalin beraubte die Bauern der Ukraine jeglicher Lebensgrundlage und ließ sie wissentlich verhungern. »Für Stalin war der Holodomor nicht nur ein Instrument, um die Bauern zu disziplinieren, sondern auch eines, um in der Ukraine alle Träume von Autonomie oder gar Selbstständigkeit ein für alle Mal zu zerstören«, resümierte der Historiker Gerhard Simon auf einer Tagung im Jahr 2007. Und schloss mit den noch immer gültigen Worten: »Wie wir heute wissen, ist dies nicht gelungen.«

Quelle: Spektrum de – m.w.N.


Der Beitrag wurde am Samstag, den 3. Dezember 2022 um 19:17 Uhr unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen und selbst einen Kommentar schreiben.

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