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Wie Russen die Hölle von Stalingrad erlebten

70 Jahre Stalingrad  - Wie Russen die Hölle von Stalingrad erlebten

VON DORIS HEIMANN - zuletzt aktualisiert: 02.02.2013 - 14:54- Wolgograd (RP).

Am Samstag feiert Russland den Sieg in der wohl wichtigsten Schlacht des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren. Zwei Veteranen erinnern sich.

Julia Kutschinskaja stellt eine Pfanne mit Bratkartoffeln und Hähnchenschnitzeln auf den Herd. Sie ist eine zierliche alte Dame mit grazilen Bewegungen und großen Augen im fein geschnittenen Gesicht. Höflich bittet die 86-Jährige die Besucherin in ihr Wohnzimmer. Dann erzählt sie so packend aus der Vergangenheit, dass das Essen in der Küche anbrennt. “Ich hatte noch nie so jemanden wie Sie zu Besuch”, sagt die russische Veteranin entschuldigend. Und sie meint: Es war noch nie jemand aus Deutschland bei ihr zu Hause.

Julia Kutschinskaja lebt in Wolgograd. In der Stadt, die einst Stalingrad hieß. Hier wurde sie geboren, hier erlebte sie als junge Lazarettschwester die Hölle. Sechs Monate lang, von August 1942 bis Januar 1943, lieferten sich die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee an der Wolga einen erbitterten Kampf. Gestern jährte sich die Kapitulation der deutschen 6. Armee unter Generalfeldmarschall Friedrich Paulus zum 70. Mal. Morgen wird Russlands Präsident Wladimir Putin zu einer Gedenkfeier nach Wolgograd reisen. Auch Julia Kutschinskaja wird dabei sein. Sie ist eine von 548 Stalingrad-Veteranen, die heute noch in der Schicksalsstadt leben.

Einsatz in der Hölle

Stalingrad, 23. August 1942: Julia Kutschinskaja freut sich auf ihren 16. Geburtstag in ein paar Tagen. Die Front ist in den vergangenen Monaten zwar immer näher gerückt. Doch Stalingrad gilt bislang als sicher. Plötzlich verwandelt sich Julias Welt in ein Inferno. Deutsche Flugzeuge bombardieren die Stadt. “Stalingrad brannte, die Wolga brannte, weil die Deutschen die Öltanks am Fluss getroffen hatten”, erinnert sie sich. Ein Flammenball schoss 500 Meter hoch in den Himmel. “Wir wussten nicht, wann Tag war und wann Nacht.”

In einem Schnellkurs ist Julia zuvor als Lazarettschwester ausgebildet worden. Jetzt muss die 15-Jährige zum Einsatz in die Hölle. “Ich hatte einen Soldatenmantel an und einen Sanitätskoffer auf dem Rücken”, erinnert sie sich. “Wir haben mit unseren Kinderhänden Verletzte aus den Trümmern geborgen.” Der Boden um sie ist eine einzige Kraterlandschaft. “Es war unglaublich schwer, die Verletzten über diese aufgewühlte Erde zu schleppen.” Weil Verbandsmaterial fehlt, müssen die Sanitäter Toten die Unterwäsche ausziehen und in Streifen schneiden.

1000 Tonnen Bomben am Tag

Die deutsche Luftflotte 4 unter General Wolfram Freiherr von Richthofen fliegt allein an diesem Tag 1600 Einsätze und wirft 1000 Tonnen Bomben ab. Mehr als 40 000 Zivilisten sterben. Die Verletzten werden meist in den Balkas verborgen. Das sind tiefe Erosionsschluchten, die Stalingrad durchziehen. Nachts bringen Helfer die Kranken mit Booten über die Wolga. Zweimal begleitet Julia Kutschinskaja so einen Krankentransport. Eine lebensgefährliche Aktion, denn auch im Dunkeln drohen Luftangriffe. “Direkt vor meinen Augen wurde ein Schiff getroffen und sank. Kinder schwammen im Wasser. Der deutsche Kampfpilot ging runter und schoss auf sie.”

Auch Anatoli Koslow erinnert sich mit Schrecken an den 23. August 1942. Der damals 20-jährige Leutnant dient als Verbindungsoffizier seiner Einheit. Mit einem Fahrer und einem Lastwagen ist er unterwegs zum Kaufhaus im Zentrum von Stalingrad. Dort sitzt der Stab der 62. Armee. Sie soll die Stadt gegen die Deutschen verteidigen. Koslow erhält den Befehl, zwei Panzermotoren im Traktorenwerk abzuholen und nach Saratow zu bringen, als die deutschen Luftangriffe auf die Stadt beginnen: “Die Gebäude um uns brannten, aus Rohren spritzte Wasser. Die Splitter durchschlugen die Kabine unseres Lastwagens. Wir krochen unter das Auto. Überall herrschte Panik.” Die ganze Nacht steht er Schlange für die Überfahrt über die Wolga. “Schreien, Weinen. Im Morgengrauen waren wir endlich dran. Am Fluss lagen viele Leichen.” Noch ein Detail hat sich in das Gedächtnis des heute 90-jährigen Veteranen eingebrannt: “Es war sehr heiß in diesem August ‘42. Und wir hatten eine Rekordernte an Wassermelonen, die gab es überall, das wirkte fast bizarr.”

Der Befehl lautet: “Keinen Schritt zurück”

“Unternehmen Blau” war der Deckname der deutschen Sommeroffensive, bei der die Wehrmacht 1942 tief in den Südosten der Sowjetunion vordrang. Und doch dominiert bis heute beim Stichwort Stalingrad “die Geschichte eines deutschen Opfergangs”, wie der Historiker Jochen Hellbeck schreibt. “Sie setzt häufig erst am 19. November 1942 ein, dem Beginn der Einkesselung der 6. Armee, und macht die Aggressoren durch diesen Schnitt zu verzweifelten Verteidigern, zu Kälte und Hunger erduldenden Opfern.” Die gegnerische Seite, die enorm hohen Verluste der Roten Armee und die Leiden der Zivilbevölkerung finden dagegen kaum Erwähnung.

Nach dem schnellen Vormarsch der Deutschen erließ Stalin im Sommer 1942 den berüchtigten Befehl 227: “Keinen Schritt zurück!” Soldaten und Zivilisten, die vor dem Feind zurückwichen, wurden als “Vaterlandsverräter” bestraft. Jede Einheit der Roten Armee hatte spezielle Abteilungen in der zweiten Reihe. Sie folgten der ersten Angriffswelle und eröffneten das Feuer auf jeden eigenen Soldaten, der schwankte. Politkommissare bearbeiteten die Frontkämpfer ideologisch. Der Druck führte zu hohen Verlusten – er mobilisierte aber auch Kräfte.

Ideologisch gestählt

Zu Beginn des Angriffs auf Stalingrad ist Kutschinskajas Moral am Boden: “Wir dachten, jetzt kommt unser Ende.” Später findet sie Halt im Glauben. “Ich habe gebetet, obwohl das damals verboten war. Die älteren Krankenschwestern scharten sich um mich. Ich betete das Vaterunser – und dann Stalins Parole: Keinen Schritt zurück!” Und Anatoli Koslow erinnert sich: “Als die Deutschen uns bombardierten, da habe ich nicht an den Sieg geglaubt. Es war Hasard. Ich hatte eine Aufgabe, und die habe ich gemacht.” Er kämpft und kämpft, erhält fünf Orden. “Ich weiß nicht einmal, wofür ich sie bekommen habe”, sagt er, “wahrscheinlich sahen meine Kommandeure meine Energie.”

Für den Historiker Hellbeck steht nach der Auswertung vieler Augenzeugen-Berichte fest: Die Rote Armee war eine politische Armee. “Ein Soldat kämpft besser, wenn er politisch aufgeklärt ist und weiß, wofür er kämpft.” Ideologisch seien die sowjetischen Soldaten durch die Parteiarbeit weitaus gefestigter gewesen als ihre deutschen Gegner. Möglicherweise gab auch das den Ausschlag für die Wende.

Das Trauma gärt bis heute

Am 19. November 1942 startete die sowjetische Gegenoffensive “Operation Uranus” mit einem Aufgebot von einer Million Soldaten. “Das war ein Pfeifen und Heulen von unseren Katjuschas”, erinnert sich Julia Kutschinskaja. Wenige Tage später sind die Deutschen und ihre Verbündeten in Stalingrad eingekesselt. Anatoli Koslow kämpft im Dezember 1942 in Kotelnikowo unweit von Stalingrad. Er ist dabei, als die Rote Armee die von General Erich von Manstein geleitete “Operation Wintergewitter” vereitelt. Manstein sollte versuchen, den Kessel durch einen Panzervorstoß zu sprengen und Paulus’ 6. Armee zu Hilfe zu kommen. Doch er bleibt auf halbem Weg stecken. “Es war sehr kalt in Kotelnikowo. Ich habe mir die Finger abgefroren”, sagt Anatoli Koslow und hält seine verformten Hände in die Höhe. “Aber wir hatten wenigstens Pelze und Filzstiefel. Die Deutschen hatten kaum etwas.” Am 31. Januar 1943 kapituliert Paulus. Zwei Tage später ergeben sich die letzten Wehrmachtssoldaten im Kessel.

Julia Kutschinskaja sitzt in ihrem Wohnzimmer vor den Orientteppichen an der Wand. Sie engagiert sich im Wolgograder Veteranenverband, hält Vorträge in Schulen und tanzt noch immer gerne. Auf Stalin, dessen Porträt die Veteranen in ihrem Club aufgehängt haben, hält sie große Stücke. Auch Anatoli Koslow ist in der Veteranenorganisation aktiv. Vor mehreren Jahren war er in Los Angeles auf einem internationalen Treffen von Weltkriegs-Teilnehmern. Dort hat er auch erstmals einen deutschen Stalingrad-Kämpfer persönlich kennengelernt. Doch das Trauma sitzt bis heute tief. Zum Abschied sagt der alte Mann aus Wolgograd: “Ich hoffe nur, dass die Deutschen nie wieder hierherkommen.”


Der Beitrag wurde am Samstag, den 2. Februar 2013 um 18:24 Uhr unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen und selbst einen Kommentar schreiben.

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